Sezierkurs

Und jetzt das ganze rückwärts: nehmen wir uns eine fertige Geschichte, schnallen sie ordentlich auf unserem Seziertisch fest und sehen nach, wie's drinnen aussieht!

Halt! Das Skalpell - eine Methode werden wir brauchen! Hm - machen wir's so: Wir lesen die Geschichte, halten dabei nach dem Allgemeinen, dem Grundmotiv Ausschau. Oft genug wird dieses irgendwo im Klartext stehen. Und dann versuchen wir, die Geschichte, sozusagen rückwärts, zu komponieren. Wenn dann das Original rauskommt - ok. Wenn nicht: dann ist der Wurm drin. Entweder haben wir etwas falsch gemacht und beim Grundmotiv danebengeguckt, oder der Autor hat sich selbst nicht daran gehalten (und dann ist's zumindest keine gute Kurzgeschichte).

Alles fertig? Schwester, das Skalpell!

Hallo! Da kommt auch schon die Pritsche mit unserem ersten Opfer, 'DAS NEBELHORN' von Ray Bradbury! Woraus besteht seine Seele?

Aus jeder Pore dringt der Geruch nach Einsamkeit - ist es das? Aber nein, das wäre viel zu vage, um dieses herrliche Gebilde am Leben zu halten. Schnipp-schnipp. Ritze-ratze - die Spannung steigt! Und da ist es! Da ist die Seele von DAS NEBELHORN! (Klammer bitte! Tupfer!)

"'So ist das Leben', sagte McDunn. 'Immer wartet einer auf einen anderen, der nie wiederkommt. Immer liebt einer irgend etwas mehr, als dieses Etwas ihn liebt. Und nach einer Weile möchtest du es zertören, ganz gleich, was es ist, damit es dich nicht länger quälen kann.'"
Guter Stoff! Was könnte man damit nicht alles machen! Ein Ehedrama könnte man schreiben, eine Geschichte über Gattenmord und Freundinnentotschlag, die Story über den netten Kerl, der seine Familie eines schönen Morgens verhackstückt!

Aber halt! Kurz soll es sein, und mit dieser Kürze soll maximale Eindringlichkeit erreicht werden - ja! Ich weiß, daß der Patient tot ist! Drum ist's ja ein Sezierkurs! Bringen Sie ihn raus, ich kann kein Blut sehen!

Oje! Jetzt müssen wir uns ein neues Nebelhorn basteln! Und weil wir von dem ganzen Formaldehyd total benebelt sind, können wir uns an das alte kaum mehr erinnern. Aber halt! Wir haben ja noch die Seele! "Immer wartet einer auf einen anderen, der nie wiederkommt" - ok, dann lassen wir also jemanden warten. Je länger, desto besser! Zwei Jahre? Fünf Jahre? Ach Quatsch! Unter einer Million Jahre machen wir's nicht!

Wer kann so lang warten? Sie vielleicht? Wer weiß - aber nehmen wir zur Vorsicht lieber einen Saurier. Weiß man's, ob nicht doch einer übriggeblieben ist! Einen großen, gräßlichen Saurier, der seit Jahrmillionen - ja, wo hockt er die ganze Zeit über? Wo ist's denn so richtig schön einsam? Wo kommt garantiert keiner hin? Gibt's nicht, sagen Sie? Berge sind erstiegen, Täler durchwandert, Dschungel abgeholzt. Bleibt nur noch das Meer! Dort, wo es richtig schön tief ist. Also hockt unser unglücklicher einsamer Dino im Tiefseegraben.

Aber halt - wo kommt jetzt die unerwiderte Liebe her? Ein zweiter Saurier? Im Tiefseegraben nebenan? Aber damit liefe die Sache aus dem Ruder und nähme Kurs auf ein Happy End.

Die gehörige Portion Tragik käme aber rein, wenn unser einsamer Dino MEINT, er hätte einen zweiten Dino gefunden - und der ist gar keiner. Na, wie hört sich das an?

Jetzt müssen wir nur noch diesen Pseudo-Dino zusammenschustern. Der Einfachheit halber wäre es nett, wenn der Pseudo-Dino irgenwo am Meer hocken würde. Jetzt stellen wir uns mal den einsamen Dino vor: So lang schon so einsam - also plärrt er laut und traurig.

Was plärrt laut und traurig und hockt an der Küste? Eine Heulboje? Ja, aber größer bitte! Dino hat einen langen Hals - Hals? Wie wär's dann mit einem Leuchtturm! Der ist nur Hals, plärrt jämmerlich mit seinem Nebelhorn und hat zudem noch ein großes Auge! Und schert sich einen Dreck um unseren armen Dino!

Und im Leuchtturm hockt ein Leuchtturmwärter, der dann hinterher die ganze Story brühwarm erzählt - das isses!

Aber halt! So holterdipolter, ohne jede Einstimmung, geht's nicht! Der Leuchtturmwärter hat noch einen zweiten Leuchtturmwärter dabei, die Ablösung, den Lehrjungen, ist ja egal. Und dem erzählt er von dem Saurier. Der war nämlich voriges Jahr, als es so richtig neblig war, schon mal da. Und weil Leuchtturmwärter so richtig melancholische Typen sind - immer alleine mit dem Meer, da wird jeder ein bißchen trübsinnig von - wird er das alles sehr gefühlvoll erzählen. Kein Mensch versteht einsame Saurier besser als ein Leuchtturmwärter!

Erzählt's, dann kommt der Saurier - heult mit dem Nebelhorn um die Wette - balzt den Leuchtturm an - Leuchtturm stellt sich stur - Saurier flippt aus, haut den Leuchtturm um. Erzähler flüchten vorher in den Keller, damit sie hinterher erzählen können. Saurier brüllt traurig, schwimmt wieder ins Meer hinaus, ins tiefe tiefe Meer.

Dort hockt er nun wieder, ganz ganz traurig. Stelle man sich mal vor!

Zufrieden? Hoffentlich nicht! Da fehlt nämlich noch was: trauriger Saurier ist gut, aber setzen wir lieber noch was drauf. Nämlich einen neuen Leuchtturm - der erzählende Leuchtturmwärter fährt dann raus, sieht sich den neuen Leuchteturm an und wartet dort auf den Saurier. Saurier kommt nicht. Wärter traurig - und dann weiß man totsicher, daß mit dem Saurier eigentlich DER MENSCH gemeint war.

Puh! Ein bißchen sieht's ihm schon ähnlich, zumindest das Skelett haben wir wieder beisammen. Jetzt müßte man nur noch ein bißchen schreiben können, und der Patient wäre wieder da. Aber dafür haben wir jetzt keine Zeit - der nächste Kandidat wartet schon. Aber erst mal Händewaschen! Sie können ja einstweilen 'Das Nebel- horn' von Ray Bradbury nochmal lesen und nachschauen, ob wir etwas vergessen haben...

Der nächste Patient ist - oh! - 'Der stibitzte Brief' von Edgar Allan Poe. Da heißt's aufpassen, Mr. Poe versteht keinen Spaß!

Vorsicht! Gaaanz langsam! Nicht mit der Kettensäge, Sie Riesen- rindvieh!

Jetzt haben wir den Salat! Sehen Sie sich DAS an! Gerade noch ein Fetzen ist übrig:

"'Es gibt da ein Vexier-Spiel', setzte er fort, 'das wird auf einer Landkarte gespielt. Eine Spielpartei fordert eine andere auf, eine gegebenes Wort zu suchen - den Namen einer Stadt, eines Flusses, Staates oder Reichs - kurz, irgendein Silbenfall auf der buntscheckigen und verwickelten Kartenfläche. Ein Neuling im Spiel sucht nun generell seine Opponenten dadurch zu verwirren, daß er ihnen die am kleinsten gedruckten Namen aufgibt; doch der Eingeweihte wählt grad solche Worte aus, die sich in großen-breiten Charakteren vom einen Ende der Karte zum anderen hinziehen. Diese entgehen, wie die übergroß beschrifteten Plakate und Schilder an der Straße, eben darum der Aufmerksamkeit, weil sie gar so sehr ins Auge fallen; und hier entspricht das physische Übersehen genau dem geistigen Nicht-Aufnehmen: was allzu aufdringlich und allzu handgreiflich selbst-verständlich ist, läßt der Intellekt unregistriert vorüber. Doch das ist, scheint's, ein Punkt, der dem Präfekten ein bißchen über - oder unter - die Begriffe geht.'"
Uff! Hat doch unsere liebe Kettensäge anscheinend die Seele der Geschichte übriggelassen! Gott schütze sie! Und vor allem den Schrecken aller schlampigen Literaten vor 1849, den ebenso scharfzüngigen wie scharf- äugigen Mr. Poe. Das ist nicht guter Stoff, das ist nicht Seelchenklimperei - das ist intelligent!

Man sieht etwas nicht, WEIL man es so sehr sieht - weil es so offenkundig ist, und man sucht nicht im offenkundigen, sondern in den Winkeln und Ecken. D.h., ein dummer Mensch würde so vorgehen - ein gescheiter natürlich nicht.

Von einem Präfekten war die Rede - und wenn ein Präfekt etwas sucht, dann wird's wohl der von der Polizei sein.

Oh ja! Die findet schon was. Dann nämlich, wenn die Herren Verbrecher nicht Edgar Allan Poe heißen, sondern lediglich vom selben Kaliber sind. Die verstecken dann ihr Zeugs dort, wo sie MEINEN, es fände keiner. Dabei hängt das Findenkönnen irgendwelcher Gegenstände weniger vom Versteck ab als vom Verstand des Suchers. Ein Profi-Schnüffler wie der Herr Präfekt hat da seine Erfahrungen, er kennt seine Pappenheimer. Das geht dann so: unter den Dielenbrettern nachsehen, die Wandtäfelung abnehmen, Tische auseinandernehmen, in der Polsterung der Stühle rumbohren - nichts bleibt verschont. Wirklich nichts? Eben doch! Es gibt da ein paar Flecken, da schaut der Herr Präfekt NICHT nach. Eben, WEIL er seine Pappenheimer (und sonst nicht viel) kennt. Wie wär's denn, wenn man das Gesuchte einfach mitten auf den Schreibtisch legt? Macht keiner von Präfektens Pappenheimern, sieht er also gar nicht erst hin - auch wenn er's sieht.

Wie war doch gleich wieder der Name? 'Der stibitzte Brief', richtig! Also ist's ein Brief. Ein Brief tritt üblicherweise sittsam mit einem Kuvert bekleidet auf. Tun wir ein übriges und wenden das Kuvert, maskieren ihn ein bißchen und legen ihn dann wunderschön sichtbar aus. Dann ist er IRGENDEIN Brief, mitten am Schreibtisch.

Ein Brief ist ein Brief ist ein Brief. Und unser Herr Präfekt schnüffelt sich die Nase wund, mit der Beschreibung des Briefes im Kopf, den er in irgendeinem raffinierten Versteck zu finden erwartet. Ätsch! Er ist gar nicht versteckt!

Aber der Detektiv von Mr. Poe findet ihn, schon um den dummen Präfekten zu hänseln.

Nun, so ein paar Knochen haben wir wieder beisammen. Aber im 'Stibitzten Brief' war doch noch mehr. Oh Gott! Jetzt müssen wir tatsächlich eine Seance abhalten und Mr. Poe das Malheur beichten!

Moral von der Geschicht': Im 'Stibitzten Brief' kommen noch so einige Reflexionen über Mathematik und Dichtung vor, die aus der Grundidee nicht direkt ableitbar wären, mit dieser allerdings in einem fruchtbaren Zusammenhang stehen. Man KÖNNTE aus obigem, rekonstruiertem Material eine gute Kurzgeschichte schreiben, die gleichzeitig eine Detektivgeschichte wäre. Aber Poes Geschichten entsprechen nicht ganz unserer heutigen Kurzgeschichte. Er verstand unter Shortstories

"Prosastücke, deren Lectüre das Zeitmaß einer halben Stunde nicht unterschreitet, dasjenige von zwei Stunden aber nicht übersteigt."
(Rezension Hawthorne, Zweimal erzählte Geschichten)
Werfen wir ihm bitte nicht vor, daß er gegen unseren heutigen Begriff von Kurzgeschichte verstößt. Immerhin war er es, der diese Gattung ganz maßgeblich mitbegründete.

Beenden wir damit für's erste unseren 'Sezierkurs'. Das Prinzip ist klar: Grundidee suchen, nach dieser dann den Plot aufbauen. Dann versuchen, die Story zu schreiben (was wir hier aus Platzgründen nicht vorexerzieren können). Dies ist eine der wertvollsten Fingerübungen für Kurzgeschichtenschreiber und das beste Mittel überhaupt, um die Architektur von Kurzgeschichten zu erkennen.

Das kostet ZEIT. Aber bedenken Sie, wieviel Zeit Sie auch nur eine mißratene Story kostet!

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