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Wie anfangen?Sie haben den Stoff aufbereitet und stehen nun vor der entsetzlichen Aufgabe, einen Anfang zu finden. Zunächst einmal müssen wir bestimmen, wann genau die Erzählung
einsetzt. Nehmen wir unser Beispiel mit den Killervögeln (siehe
Vom Stoff zum Plot).
Möglichkeit 2) ist am unkompliziertesten. Vogelangriff? Den sollten wir uns besser aufsparen. Nehmen wir also den Streit mit den Einheimischen, die in unserem Helden eine Gefahr für ihre Arbeitsplätze sehen. Die trotz der Gefahr durch die Vögel alle Maßnahmen behindern und hintertreiben. Den Grund dafür kennt der Held noch nicht - das Handeln der Einheimischen muß ihm sehr rätselhaft erscheinen. Realisierung: Ein Gespräch mit dem Bürgermeister. Oder: unser Held wird auf der Straße angefeindet, ohne daß er weiß, wie ihm geschieht. Oder: ein anonymer Anruf. "Hallo? Hallo! Ist da jemand?" rief Hans und wollte den Hörer schon wieder auflegen. So könnten die ersten Sätze der Killervögel lauten. Der Anfang wirft Fragen auf (wieso die Feindseligkeit? was ist mit den Vögeln?), die von der Geschichte dann geklärt werden. Die Geschichte muß zu einem Zeitpunkt einsetzen, der eine Entwicklung der Umstände und Figuren ohne Stockung erlaubt. Wo dieser Punkt liegt, hängt vom jeweiligen Plot ab. Sehen wir uns nun einige Anfänge an. Als erstes Heinrich von Kleists 'Marquise von O.': "In M..., einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O..., eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitung bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei ..." Wer DA nicht weiterliest, der hat keinen Funken Neugierde im Leib!
In 'andre Umstände' gekommen und weiß nicht WIE?? Das möchte man denn
doch genauer wissen! "Herzog Wilhelm von Breysach, der seit seiner heimlichen Verbindung mit einer Gräfin, namens Katharina von Heersbruck, aus dem Hause Alt-Hüningen, die unter seinem Range zu sein schien, mit seinem Halbbruder, dem Grafen Jacob dem Rotbart, in Feindschaft lebte, kam gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts, da die Nacht des heiligen Remigius zu dämmern begann, von einer in Worms mit dem deutschen Kaiser abgehaltenen Zusammenkunft zurück, worin ..." So beginnt 'Der Zweikampf', und genau so sollte keine Geschichte beginnen. Wir haben den ersten Satz aus Platzgründen nur zur Hälfte zitiert. Kleists Novellen sind alle reichlich atemlos - die Handlung treibt und treibt, ein Verweilen gibt es nicht. Und darin sind sie groß. Hier hat sich der große Meister aber gründlich ver- stiegen: all diese Informationen kann kein Leser behalten, er wird den Satz mehrmals lesen müssen, befindet sich bald im Zweikampf mit diesem Anfang, der ganz eindeutig den Fluß der Erzählung hemmt. Sehen wir uns zur Erholung den Anfang des 'Kohlhaas' an: "An den Ufern der Havel lebte um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit." So isses! Der ganze Rest zeigt dann, wie entsetzlich und rechtschaffen der Roßverkäufer war. Man wird neugierig, wie ein entsetzlicher, recht- schaffener Mensch ist. Sehen wir uns nun einige Anfänge bei Franz Kafka an: "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Man streiche diesen harmlosen Satz weg, und die ganze erste Seite
von 'Der Prozeß' wäre schlichtweg unverständlich. Dieser Satz legt
das Fundament für die seltsame Atmosphäre dieses Romans. Er ist -
genial. "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt." So kann's gehen! Mit diesem Knalleffekt beginnt 'Die Verwandlung'. Ein Anfang, daß man am liebsten die Geschichte selber weiterschreiben wollte, gäbe es sie nicht schon. Aber es muß nicht immer Knallfrosch sein. Lesen Sie das: "Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis um- gaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor." Damit sind die wichtigsten Größen umrissen: K., der 'Landvermesser' aus dem Dunkel; das 'Schloß', von dem auch weiterhin wenig zu sehen sein wird - und das 'Dorf'. Und eigentlich könnte man sich schon an dieser Stelle fragen, wieso denn K. - der Fremde - überhaupt in die 'scheinbare Leere' emporblickt. Woher weiß er, daß dort das 'Schloß' liegt? Oder sieht blickt er zum 'Dorf' hinauf? Übrigens ließe sich die Reihe gelungener Anfänge bei Kafka lange
fortsetzen. "Liebst du? Ich höre ihre Stimme, die das sagt - manchmal höre ich sie noch. In meinen Träumen. Liebst du? Ja, antworte ich. Ja - und wahre Liebe wird niemals enden. Dann wache ich schreiend auf." Für eine Horror-Story kein schlechter Anfang (S. King, Nona). Liebe, wahre Liebe - schreiendes Erwachen: diese Kombination kitzelt die Gänsehaut. Erzeugt eine ungute Stimmung gleich zu Beginn. "Der Schrecken, der weitere 28 Jahre kein Ende nehmen sollte - wenn er überhaupt je ein Ende nahm - begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspapier, das einen vom Regen überfluteten Rinnstein entlangtrieb." Dies ist der Einstieg in Kings 'Es': sagt, was Sache ist und macht neugierig, wie denn ein Papierschiffchen so verhängnisvoll sein kann. "Harry Lupac wartete auf das Mädchen, das er ermorden wollte. Er war unruhig vor Erwartung, wie eine Braut vor dem ersten Besuch ihrer Schwiegermutter, betrachtete sich nervös im Spiegel, leerte einen leeren Aschenbecher ..." So beginnt Joan Aiken ihren Thriller 'Haß beginnt daheim'. Es ist schwierig, das Buch wieder zur Seite zu legen, wenn man erst einmal diese Zeilen gelesen hat: Welches Mädchen? Wer um Himmels willen ist dieser Lupac? Mit dem Kerl stimmt doch was nicht! "Alles fing damit an, daß Marilyn in den Briefschlitz am Postamt griff, um sich zu überzeugen, daß ihr Päckchen durch- gefallen war. Da wurde ihre Hand fest und warm gedrückt, und ein Lippenpaar preßte sich sanft, aber glühend darauf." So seltsam fängt J. Aikens 'Wenn der Briefträger klopft' an. Auch hier wird man, gelinde gesagt, etwas neugierig. Zugegeben - diese Art von Knalleffekt am Beginn einer Geschichte ist ein klein wenig unseriös: die Story selbst macht sie nicht notwendig. Stattdessen verdanken sich solche Anfänge dem Wunsch des Autors, beim Leser Gehör zu finden - überhaupt Leser zu finden. Aber: kann denn Werben Sünde sein? Wechseln wir nun zu einer ganz anderen, gediegenen Form von Einstieg über: "Der Blitzableiterverkäufer kam kurz vor dem Gewitter. Am Spätnachmittag dieses wolkenverhangenen Oktobertages ging er die Hauptstraße von Green Town entlang und warf immer wieder verstohlene Blicke über die Schulter. Irgendwo da hinten, gar nicht weit entfernt, erbebte die Erde unter gewaltigen Blitzen. Irgendwo spürte er das Gewitter, dieses riesige Ungeheuer mit den schrecklichen Zähnen." So beginnt Bradburys 'Das Böse kommt auf leisen Sohlen'. Hier sehen wir einen weiteren Job, den der Anfang übernehmen kann: Atmosphäre aufbauen.
Zwingend für alle Fälle ist nur das erste. Nicht für jede Story ist es z.B. vorteilhaft, wenn man das Hauptmotiv schon im ersten Satz einführt. Atmosphäre aufbauen wird sich in der Kurzgeschichte überhaupt ganz anders gestalten (siehe hierzu 'Sprachmarken', z.B. würde der Anfang von 'Das Böse kommt auf leisen Sohlen' jede Kurzgeschichte auf arge Abwege bringen!). Und der 'Werbegag' mit der Spannung paßt auch nicht immer. Aber eines gilt für ALLE Erzählungen: der Anfang darf nicht hemmen! Ein Anfang wie der des 'Zweikampf' ist strengstens verboten!!! ¦Test¦ |
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