Vom Stoff zum Plot

Am Anfang steht der Stoff. Ehe Sie noch das erste Wort schreiben, will der Stoff ordentlich aufbereitet sein. Zuwiderhandlungen werden mit ewig unfertigen Geschichten nicht unter hundert Seiten bestraft! Und weil von diesen bedauerlichen Produkten viel zu viele in irgendwelchen Schreibtischladen schmachten, werden wir dieses Thema sehr ausführlich behandeln. Am Ende gibt es einen kleinen Test dazu.

Nehmen wir an, Sie sehen folgende Zeitungsmeldung:

"Schwerin: Seit Tagen greifen Habichte zusammen mit Bussarden Schafherden an. Über zehn Lämmer sind bereits dem rätselhaften Wüten der Raubvögel zum Opfer gefallen. Ornithologen stehen vor einem Rätsel."
Die Vorstellung läßt Sie nicht mehr los, Sie haben den Stoff für eine Horrorstory gefunden. Es juckt Sie in den Fingern, Sie setzen sich hin und fangen gleich an zu schreiben - die erste blutrünstige Szene entsteht, die zweite - Sie schreiben und schreiben, und ohne daß Sie es merken, haben Sie den Grundstein zu einer unfertigen Geschichte gelegt.

Dann ist die Stunde heran - Sie kauen entnervt am Bleistift, nichts geht mehr. Sie haben zwei, drei gute Szenen geschrieben, ABER: zu welcher Geschichte sollen die jetzt bitteschön passen? Wie soll's jetzt weitergehen??

Wir wissen nicht, was Sie dann machen, ob Sie in den Teppich beißen, den Bleistift aufessen oder die Wände hochgehen.
Aber es gibt ein Gegenmittel: Fangen Sie nicht gleich an! Klopfen Sie erst den Stoff ab, bis die Story in Grundzügen vor Ihnen steht! Bis Sie ihr Skelett sehen - das Fleisch kommt dann später.

Das beste Mittel, um an dieses Skelett zu kommen, sind 6 ganz banale bewährte Fragen. Die Antworten darauf SIND das Skelett der Geschichte.

Gewöhnen Sie sich diese Fragen an! Stellen und beantworten Sie sie immer als erstes, wenn ein Stoff an Ihre Tür klopft!

Die Fragen lauten:

    wer     hat etwas getan, erlitten oder erlebt?
    was     hat er getan?
    wann    hat er es getan?
    wo      hat er es getan?
    wie     hat er es getan?
    warum   hat er es getan?

Jetzt sehen wir uns den Zeitungsbericht nochmals an. Was wissen wir?

    WER:   ???
    WAS:   Vögel morden Lämmer
    WANN:  gerade jetzt
    WO:    bei Schwerin
    WIE:   ???
    WARUM: ???

Für unseren Zweck fehlt also noch eine ganze Menge! Zu WER müssen wir uns einen Helden einfallen lassen - vielleicht einen Ornithologen, der dort zufällig seinen Urlaub verbringt. WARUM passiert es? Gut, es könnte eine Mutation sein - das Chemiewerk um die Ecke. Zum WIE könnte uns noch einfallen, daß das schon öfters vorgekommen ist, aber so schlimm wie heuer war es noch nie - das seltsame Verhalten der Vögel greift bald auf andere Gegenden über, und natürlich bleibt es auch nicht bei Schafen.

Wichtig ist, daß Sie bei dieser Arbeit logisch vorgehen - wie bei einer Denksportaufgabe. Daß Sie die wichtigsten Elemente zuerst klären, dann zu den Elementen fortschreiten, die von ihnen abhängen. Und: Es geht dabei nur um das Gerüst! Es hilft wenig, wenn Sie gleich in die Details gehen, sich z.B. die Vita des Vogelkundlers ausmalen, bevor Sie überhaupt wissen, was in Ihrer Geschichte geschehen soll.

Aus den wenigen Zeilen oben kann man weiteres ableiten: die Bewohner sind sauer auf den Vogelkundler, als er seinen Verdacht (Mutation wg. Chemiewerk) ausspricht - sie wollen sich die raren Arbeitsplätze nicht vermiesen lassen. Der Vogelkundler stellt fest, daß sofort der Giftausstoß gekappt gehört, wenn man die Katastrophe noch aufhalten will. Damit ist ein netter Konflikt gelegt - Vogelkundler kriegt Streit, kriegt anonyme Anrufe, wird bedroht.
Es kommt zu den ersten Übergriffen auf Menschen - das Unheil nimmt seinen Lauf - aber man will es nicht zur Kenntnis nehmen.

Und daraus ergeben sich bereits weitere Figuren: der Chef des Chemiewerks, der Bürgermeister, der Polizeichef, der Gewerkschaftsboß - die Gegenspieler des Helden, der allein auf weiter Flur steht. GANZ allein ist aber auch wieder schlecht, sowas wird leicht fade. Also wechselt einer der Gegenspieler auf seine Seite über. Dann fällt uns ein, daß der arbeitsplatzgeile und ignorante Gewerkschaftsboß eine Tochter hat - die sich zum Ärgernis des Vaters in den feschen Vogelkundler verguckt. Sie arbeitet im Chemiewerk, beschafft Informationen. Der bärbeißige Polizeichef hat zwei kleine Kinder, die werden von den Vögeln aufgefressen, usw.

Schwuppdiwupp ist der Plot fertig, und Sie können ruhigen Gewissens ans Erzählen gehen.

Die erste Stufe des Erzählens ist also: sich über die 6 Ws Rechen- schaft ablegen - daraus den Plot entwickeln.

Üben Sie den Umgang mit den 6 Ws! Sie üben damit nichts geringeres als die Perspektive des Erzählers - und aus der sollten Sie die Welt sehen!

Nehmen wir an, Sie gehen eines sonnigen Tages spazieren und begegnen einem Leichenzug. Normalerweise denkt man dann 'So kann's kommen!', oder 'Unverhofft kommt oft!' und schüttelt rasch das gewisse mulmige Gefühl ab. Sie wollen aber SCHREIBEN - also her mit den 6 Ws! Offen sind hier: WER ist's? WIE ist er gestorben? WARUM ist er gestorben?

Andererseits liegen einige Antworten klar & deutlich zu Tage: WAS: gestorben ist einer. WANN? Vor ca. 3 Tagen. WO? Wahrscheinlich hier in der Stadt. Oder ist er im Urlaub gestorben? Vielleicht gar auf einer Weltreise? Hat sich die Weltreise als Lebenswunsch erfüllt, war vielleicht schon totkrank, und - und schwupp! sind wir schon mitten drin im Fabulieren. Und dabei war's nur ein Leichenzug, ein eigentlich gar nicht anregender Anblick.

Die Logik der W's:

WER: diese Frage darf nicht als erste in aller Ausführlichkeit beantwortet werden. Kurz, knapp - wie bei einem Zeitungsartikel! Es ist leichter, aus der Fabel die Charaktere zu entwickeln, als umgekehrt aus fertigen Figuren eine Fabel zu schnitzen. Also z.B. Mann, 40 Jahre, Schreiner, verheiratet, zwei Kinder, eines davon schwachsinnig. Oder: Frau, 30 Jahre, Grafikerin, kinderlos, eher kühl, will Karriere machen. Solche Charakterisierungen - mögen sie noch so kurz sein - legen bereits eine gewisse Art von Fabel nahe. Aber mit der wollen wir doch weitermachen! Würden wir gleich zu Beginn die Figuren in aller Deutlichkeit ausmalen, dann bliebe kein Freiraum mehr für die Fabel.

WAS: Mord, Totschlag, Ehebruch - was immer Sie wollen!

WANN, WO: im Sommer, im Urlaub, nachts, im Hotel, vormittags, am Arbeitsplatz.

WIE: kaltblütig, zaudernd, aus einem Affekt heraus.

WARUM: und hier schließt sich dann der Kreis - das WARUM führt uns wieder zum WER. Zur Umgebung des WER, zu seinen Anlagen, seinen Freunden, seiner Herkunft. Jetzt können wir mit Schreiben anfangen.

Gehen Sie einen beliebigen Stoff in dieser Form durch - und im Handumdrehen liegt vor Ihnen der Keim für eine Erzählung.
Diese Denkweise bildet das Grundgestein des Erzählens. Sie ist für Sie gerade so wichtig wie die Tonleiter für den Musiker.

Nehmen wir einmal an, Sie sitzen in Ihrem Zimmer und hören nebenan den Nachbarn rufen: "Marie, Marie! Den Strick, bring mir den Strick!" Dann ist Stille.

Sie wissen, daß Marie die Frau des Nachbarn ist. Natürlich ist der Nachbar ein netter Mensch, ein begeisterter Heimwerker, und natürlich braucht er den Strick nur, um - ja, zu was? Welche der 6 Ws sind gegeben?

Wer ? Wo ?
Was ? Wie ?
Wann ? Warum ?

Sie sehen - was weiß man schon von seinen Nachbarn! Lassen Sie sich zu den unter WAS aufgeführten Möglichkeiten das WIE und das WARUM einfallen - und schon haben Sie die Keime zu einem halben Dutzend Geschichten.

Wir haben oben die 6 Ws zum Spekulieren benutzt - sozusagen als Krücken für die Phantasie.
Ebensogut lassen sie sich zur logischen Deduktion verwenden. Nehmen Sie eine Sherlock-Holmes-Story. Holmes macht nichts weiter, als die fehlenden Ws zu finden.

Auch beim Zusammenspinnen einer Geschichte ist Logik im Spiel: wenn ich das und das als gesetzt nehme - was folgt dann als drittes etc. daraus? Die Annahmen mögen noch so verrückt sein - sie müssen nur logisch zusammenpassen.
Tun sie's nicht, so wird die ganze Geschichte von anfang an unglaubwürdig. Mehr noch - sie läßt sich nicht schreiben. Probieren Sie es aus. Was ist von einer Geschichte dieser Art zu halten:

"Dunkel war's, der Mond schien helle, als ein Wagen blitzeschnelle langsam um die Ecke fuhr..."

Als Geschichte wär's ein Witz! WENN Sie also Ihrem netten, freundlichen Nachbarn einen Mord andichten - dann bitteschön ein passendes Motiv, das sich auf nett reimt.

Bleiben wir einen Moment bei der Logik: ein weiterer Denkfehler ist die Tautologie. Sie ist auch in unserem Handwerk eine nicht zu verachtende Quelle von Mist. Die literarische Entsprechung der Tautologie ist das Klischee - der böse Mörder, der immerzu nur böse ist. Oder der harte Kerl mit dem weichen Kern: Tautologisch, weil man's gar nicht anders erwartet von einem harten Kerl. Lassen wir die Beispiele - wenn Sie wirklich nicht wissen, was gemeint ist: sehen Sie doch mal wieder fern! Sowas ist eine Beleidigung für den Verstand (nebenbei: so mancher sogenannte Verstand will offenbar gerne beleidigt werden...).

Nehmen Sie den Hauptbahnhof. Den Platz, an dem die verschiedensten Menschen am zahlreichsten auftauchen. Gehen Sie hin, nehmen Sie Ihr Notizbuch mit. Schlendern Sie herum, kaufen Sie sich eine Currywurst, sehen Sie sich den Penner in der Ecke an, reden Sie mit ihm, wenn Ihnen langweilig ist. Vergessen Sie nicht die Zeugen Jehovas (jeder bessere Hauptbahnhof hat sie), die Bahnpolizisten und die dubiosen Typen mit dem öligen Äußeren. Sehen Sie sich all diese Leute an. Sehen sie genauso aus, wie Sie erwartet hatten? Haben alle Bahnpolizisten einen dicken Bauch und eine mürrische Visage? Fällt Ihnen an irgendjemandem etwas auf?

Vielleicht sehen Sie nur Bahnpolizisten mit dicken Bäuchen und Zeugen Jehovas aus dem Bilderbuch etc. - solche Tage gibt es. Aber trotzdem werden Sie den öden Samstag, den Sie für diesen Versuch vielleicht wählen, mit der Idee für eine Story beenden.

Wetten?

Probieren Sie es aus!

Gehen Sie in ein Lokal, das sie nicht kennen - am besten eines von der Art, um die Sie sonst immer einen weiten Bogen machen. Setzen Sie sich nicht an den Katzentisch, sondern mittdrin an die Theke. Sehen Sie sich die Leute an. Beobachten Sie den Wirt. Lauschen Sie. Bleiben Sie mindestens eine Stunde. Machen Sie sich jetzt keine Notizen - das würde Sie nur ablenken. Danach setzen Sie sich in einen ruhigen Winkel und notieren Sie Ihre Eindrücke. Das wird vielleicht keine Geschichte und auch keine Idee für eine Geschichte sein, aber immerhin eine brauchbare Skizze.

Was dabei heraus kommen kann? Lesen Sie unsere kleine Kostprobe aus Les Gommes!

Haben Sie das Beispiel gelesen? Robbe-Grillet beschreibt keinen Wirt aus dem Klischee-Baukasten. Die Figur ist 'echt'. Man kann sich den Schauplatz vorstellen. Alles ist gegenwärtig, sogar ein bißchen echter als echt.

Abschließend ein kleiner Test...

Hinweis:

Ihr Browser muß dazu JAVA SCRIPT-fähig sein, und JAVA SCRIPT muß aktiviert sein. Ist dies nicht der Fall, können Sie den Test überspringen.

Quiz 1

Über was wissen wir hier bescheid?

"Ja! Ufos sind Realität! In geheimen Berichten der US-Navy ist immer wieder von eigenartigen Vorkommnissen die Rede, von Dingen, die unser Denken weit überschreiten - Dinge, die offizielle stets dementiert werden, was eine gutgläubige Öffentlichkeit kommentarlos hinnimmt." nichts
wer
wer+was
wer+was+wann
wer+was+wann+wo
wer+was+wann+wo+wie
wer+was+wann+wo+wie+warum

Quiz 2

Über was wissen wir hier bescheid?

"Der Hilfsarbeiter Georg K. wurde gestern mittag in einer leerstehenden Lagerhalle erschossen aufgefunden. K. wurde von zehn Kugeln aus einer Maschinenpistole getroffen. Die Polizei geht von einem Bandenmord aus."
nichts
wer
wer+was
wer+was+wann
wer+was+wann+wo
wer+was+wann+wo+wie
wer+was+wann+wo+wie+warum

Quiz 3

Über was wissen wir hier bescheid?

"Biedermann heiratete, um bald danach seine Frau zu ermorden. Welch scheußliche Tat! Wie verwerflich! Wer hätte das gedacht?"
nichts
wer
wer+was
wer+was+wann
wer+was+wann+wo
wer+was+wann+wo+wie
wer+was+wann+wo+wie+warum

Quiz 4

Über was wissen wir hier bescheid?

"Eine baldige Änderung der Rentenpolitik sei eventuell demnächst zu erwarten, wie aus gut informierten Kreisen zu erfahren ist."
nichts
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wer+was+wann+wo+wie
wer+was+wann+wo+wie+warum
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