Ein Cop zum Kotzen

Montag morgen. Hans-Adolf Orkut kam gegen halb zehn ins Präsidium und stank wie zehn schimmlige Bierfässer. Inspektor Staudinger kotzte demonstrativ zum Fenster hinaus.
"Schlechtes Wetter heute?"
Staudinger knallte das Fenster zu, ließ sich hinter seinen Schreibtisch fallen und warf Orkut einen verzweifelten Blick zu.
"Irgendwann reicht's mir", verkündete er. "Du weißt, daß ich nicht so leicht kotze. Im Unterschied zu anderen Leuten bringe ich's sogar fertig, nüchtern zum Tatort zu fahren. Das ist manchmal schlimm, und anfangs dachte ich, es gibt nichts Ärgeres."
"Aber Werner! Das haben wir doch alle durchgemacht! Sogar ich!"
"Hans-Adolf, an die Toten hab ich mich gewöhnt. Eine Bierfahne wirft mich auch nicht um. Aber DU STINKST WIE EINE BESOFFENE WASSERLEICHE!" Staudinger brüllte die Worte und war drauf und dran, Orkut an die Gurgel zu gehen.
"Ich weiß - nicht jeder schafft das!" erwiderte Orkut ernst. "Ich KANN eben Alkohol trinken und morgens fit in den Dienst kommen! Das kann nicht jeder. Ich trage das auch keinem nach! Du mußt selbst wissen, was du machst. Ich arbeite eben gerne - und arbeiten hält jung!"
"Umps!" Staudinger war sprachlos.
"Sieh mich an! Ich LEIDE darunter, wenn ich abends hier rausgehe. Es gibt viel zu wenig Morde, viel zu wenig Arbeit!"
"Grrr - gllll..." machte Staudinger, dem es die Sprache verschlagen hatte.
Aber da klingelte das Telefon.
Der Inspektor griff nach dem Hörer. "Staudinger! Was? Leiche? Wie denn? Ja und? Was für'n Kaliber? Ohä! Jaaa! Wir fahren gleich hin - ja, der ist da! Der kommt auch mit! Ja! Natürlich!"
Klank! machte der Hörer.
Orkut rückte sich die Krawatte zurecht.
"Und, Werner?"
"Arbeit, Hans-Adolf!"
"Arbeit? Wir? Was ist denn passiert?"
"Leiche! Löcher im Bauch! Löcher im Kopf! Löcher überall!"
"Hm - Selbstmord? Natürlich Selbstmord! Montag, ist doch klar! Da kommen die Wochendselbstmorde rein! Haben doch wir nichts mit zu tun!"
Wie durch Zauberhand stand auf Orkuts Schreibtisch bereits das gewohnte Bierglas. Schlupps-gluck, da war es auch schon leer.
"Es wird Zeit, daß wir uns endlich um den Fall Balduin Schlipps kümmern!" verkündete Orkut, während er sich den Schaum vom Mund wischte.
"Aber das WAR ein Selbstmord!" protestierte Staudinger.
"Selbstmord? Sag ich ja! Und deshalb fahr ich da auch nicht hin! Ich habe keine Zeit für Selbstmorde! Schon gar nicht, solange der Fall Schlipps noch bei den unerledigten Fällen liegt! ICH löse JEDEN Fall!"
"Hans-Adolf! Wie macht man Selbstmord mit Kaliber 22 mit 39 Einschüssen? NEUNUNDDREISSIG!"
"Pah! Also, ich mag das ja nicht. Aber ich könnt' das schon!"
"Kaliber 22! Noch dazu angefeilt - Dum-dum-Geschosse!"
"Pfff! Dann ist's doch einfacher, nicht? Bring dich mal mit 'ner Kleinkaliber um! Da mußte du aber schon ganz genau zielen! Das schaff ja nicht mal ich!"
Erneut war Staudinger sprachlos. Es gab eine Art von Logik, die lernte man weder auf der Schule noch im Leben. Mit der wurde man auch nicht geboren. Woher kam sie dann? Was sagte man da?
"Nimm den Flachmann aus der Schulterhalfter! Da gehört die Knarre rein!" sagte er. "War peinlich, letztesmal!"
"Knarre? Wieso die Knarre?"
"WEIL WIR BULLEN SIND!"
"Ein GUTER Polizist hat so etwas nicht nötig! Ich kann jederzeit alles. Das macht den WIRKLICH GUTEN POLIZEIBEAMTEN aus, Werner."
Staudinger verschluckte die Erwiderung. Stattdessen fuhr er sich unwillkürlich an die Brust, ob da auch die Mauser saß. Natürlich war sie da. Wie so oft stellte er sich ein Duell mit Orkut vor. Mauser gegen Flachmann, gluck-gluck - PÄNG!
Dann saßen sie im Dienstwagen. Leider fuhr Orkut. Orkut fuhr gerne Auto. Verkehrsregeln? Für die andern!
"Ich brauche keine Ampeln. Ich kann das!" erklärte Orkut gerade und nahm einen tüchtigen Schluck aus dem Flachmann.
"Du bist ein Schwein!" sagte Staudinger.
"Alle Menschen sind Schweine! Ich weiß das! Und daran halte ich mich konsequent!"
Ein druckreifer Satz. Staudinger konnte das beurteilen, weil er heimlich Kriminalgeschichten schrieb. Unter dem Pseudonym W. Herrmann erschienen sie regelmäßig in "Die Polizei". Mittlerweile interessierte sich bereits der Sumpfkrampf-Verlag dafür, weil der Kommissar in Staudingers Geschichten "die originellste literarische Figur der letzten 20 Jahre" sei. Originell? Staudinger fand ihn zum Kotzen!
"Fahr mal rechts ran."
"Warum rechts ran?"
"Weil das der Tatort ist! Gablergasse 1! DA!"
Quiieetsch! stand der Wagen auf dem Gehsteig.
"Die Oma hat aber Glück gehabt, Werner! Mit'm Stock rumlaufen, blind sein, und dann nicht mal überfahren werden!"
Gluck-gluck!
"He! Sie können hier nicht parken!"
Ein Polizist steckte den Kopf zum Fenster herein.
"ICH kann das!" erwiderte Orkut.
"Öha! Ihre Papiere! Und blasen Sie mal in das Röhrchen!"
"Ich bin im Dienst, Mann! Mordkommission! Weg von der Tür! Oder wollen Sie die Ermittlungen behindern!"
Der Tatort war ein Import-Export-Geschäft. Das Hinterzimmer zeichnete sich durch zwei ausgesucht geschmacklose Gemälde aus. Im Raum stand ein fahl-grauer Schreibtisch, ein Farbton, der Staudingers Magennerven enorm reizte. Nur die leuchtend roten Blutflecke an der Wand hinter dem Schreibtisch verliehen dem Raum eine frische Note.
"Siehst du? Kaliber 22! Da hängt ja das halbe Hirn am Bilderrahmen!" sagte Staudinger.
"Hirn? Sieht so Hirn aus? Wer hat denn sowas!"
"Angeblich alle", stöhnte Staudinger.
"Gräßliches Zeugs! Aber weiter? Wo ist hier die Leiche! Wegen dem bißchen Hirn fahr ich nicht hierher!"
Staudinger zeigte auf ein undefinierbares Bündel hinter dem Schreibtisch. "Pfft! Das ist doch bloß ein Schäferhund!" bläffte Orkut.
Jemand kicherte.
"Schon mal 'nen Schäferhund mit Bierbauch, Krawatte und Sakko gesehen?"
"Aus dem Zirkus? Ich kenn das! Mir haben sie mal in Casablanca den Arm gebrochen, als ich noch zur See fuhr! Da kenn ich mich aus! Die sind doch alle gleich!"
"Wer?"
Orkut stieß mit dem Fuß an das Häufchen Elend. Das Häufchen gab keinen Laut von sich.
"Hm. Glaubt man gar nicht. Liegt so da und ist tot. Komischen Kopf hat der. Naja, ein Import-Heini! Ist wohl 'n Ausländer?"
"Hmmm, Kaliber 22."
"Das mußt du mir jetzt aber schon erklären!"
"Sieh mal, was da am Bilderrahmen hängt. Das ist jetzt nicht mehr im Kopf. Deshalb sieht der Kopf ein bißchen komisch aus."
"Pff! Selbstmord, sag ich ja! Schuß in den Kopf. Das macht doch jeder!" "Und in den Bauch und in die Brust und eine in den Oberschenkel und einen in den Unterarm und noch über zwei Dutzend mehr!"
"Der Mann war eben gründlich. Wird schon seinen Grund gehabt haben. Und?" "Da hinterm Papierkorb hängt was, das sieht verdächtig nach zermanschter Herzklappe aus. Das am Bilderrahmen ist Hirn. Und ich müßte mich verflucht täuschen, wenn das braunrote Zeugs auf dem Sessel kein Lebergewebe wäre."
"Ekelhaft. Aber so ist eben der Mensch!"
"Selbstmord?!"
"Das ist nur eine Willenssache! Das ist überhaupt kein Problem!"
"Das halbe Hirn am Bilderrahmen und dann noch ins Herz schießen?"
"Man darf eben nicht zart besaitet sein, dann geht das schon."
"Siehst du irgendwo eine Waffe? Ich nicht!"
"Waffe, Waffe! Das ist zuerst einmal eine Willenssache!" blaffte Orkut. Staudinger guckte verschämt in die Ecke. Die Angestellten bei der Tür krümmten sich vor lachen.
Orkut wandte sich um, rempelte sich brüsk den Weg frei. "Gehen wir, Werner! Für Selbstmorde bin ich nicht zuständig!"
"Hans-Adolf! Wenn das ein Selbstmord ist, wo ist denn dann die TATWAFFE?!"
"Tatwaffe? Bei eine Selbstmord gibt's keine Tatwaffe, weil's da auch keinen Täter gibt! Weil Opfer und Täter und überhaupt alles in einer Person ist. Was soll die blöde Fragerei?"
Schon war Orkut zur Tür raus. Staudinger lief hinterdrein, wollte ihn aufhalten.
"Das geht mich nichts an! Selbstmorde! Pfft! Bin ich bei der Selbstmordkommission oder was? Unverschämtheit! Wenn das so weiter geht, dürfen wir uns bald noch um überfahrene Omis kümmern!" schimpfte Orkut.
"Aber das war MORD!" protestierte Staudinger immer noch, als sie bereits im Wagen saßen.
Orkut hörte ihm gar nicht zu. Er gab seine Meldung an die Zentrale ab: "Selbstmord, ja, eindeutig! Die sollen die Leiche abholen, ja, sofort! Hält ja den ganzen Betrieb auf, sowas!"
"Aber..."
"Nichts aber! Wir haben wichtigere Sachen zu tun!" erwiderte Orkut. "Werner, klemm dich gleich mal hinter die Akten! Du weißt doch - der Schlipps-Fall. Noch immer ungelöst!"
"Aber DAS war ein Selbstmord!"
"Red keine Blödsinn! Was ist mit der Leiche? Wurde die schon exhumiert?" "Aber - der Mann ist doch schon drei Jahre tot!"
"Mein Gott Werner! Dann wird's aber Zeit! Wenn ich sage, daß wir JEDEN Fall lösen, dann meine ich das auch so! Und, Werner, ist der Fall schon gelöst?"
"Das ist doch gar kein Fall, das..."
"Ist der Fall gelöst?" beharrte Orkut.
"Nein! Weil es da nichts zu lösen gibt!"
"DAS, Werner, ist MEINE Sache! ICH bestimme, wann ein Fall zu den Akten gelegt wird! DESHALB bin ich Kommissar und du immer noch Inspektor!" dozierte er, als sie die Treppe zum Präsidium hinaufstiegen. "Und weil das so ist, wirst du gleich jetzt die Anordnung zum Exhumieren vorbereiten!"

So kam es, daß der Rentner Balduin Schlipps, der sich vor drei Jahren aus Gram und gebrochenem Herzen in seiner Wohnung erhängt hatte, nochmals ans Licht der Tage kam. Sehr zum Mißvergnügen des Gerichtsmediziners. Der aber dennoch - Anordnung ist Anordnung - die Leiche gewissenhaft untersuchte.
"Pfff! Nichts gefunden! Schwachköpfe!" schimpfte Orkut, als er den Bericht las. "Da machen die Kerle den ganzen Tag nichts anderes als Tote zerpoppeln - und finden nicht mal eine Mordwunde! - Haben die überhaupt nach Gift gesucht?"
"Gift? Der Mann hat sich ERHÄNGT!"
"Pah! Erhängt! Das kann alles mögliche gewesen sein! Die Kollegen kann man damit ja hereinlegen - MICH nicht! - Ja, Orkut!" brüllte Orkut ins Telefon. "Sie haben den Leichnam untersucht? Wieso steht dann nichts von Gift im Bericht? Haben Sie gar nicht danach gesucht, was! Dann holen Sie das eben nach! JA! Wir HABEN einen Verdacht! Was? Das können Sie nicht mehr nachweisen? Wieso können Sie das nicht? Können Sie es ausschließen? Können Sie nicht?! Was können Sie denn dann? Ich möchte einen WAHRHEITSGETREUEN BERICHT! Schreiben Sie ruhig rein, WAS Sie alles nicht ausschließen können! Und wenn es SCHWIERIG ist, dann STRENGEN SIE SICH EBEN AN!"
Klack! hing der Hörer auf der Gabel. Zisch! rutschte ein Bier auf den Tisch.
"Denen muß man ja alles sagen! Wenn man nicht alles selber macht!"
"Sag mal - von welchem Verdacht sprichst du überhaupt?" fragte Staudinger verdattert.
"DU hast natürlich keinen Verdacht, das weiß ich schon! Denk doch mal nach! Die TOCHTER!"
"Die war doch gar nicht in München, als es passierte!"
"Ach? Woher willst du das wissen? Weil sie es SAGT? Ha! Hier! Sieh dir bloß die Akte an! Ulrike Berger, geborene Schlipps, zweimal geschieden, arbeitslos! Und Sie ist die ERBIN!"
"Aber der Alte hatte doch gar nichts - außer seinem Dackel!"
"Red nicht dumm drum herum - so einfach laß ich mich nicht täuschen! Wir beantragen gleich einen Haftbefehl, dann werden wir ja sehen!"

Zwei Tage später war einerseits der unglückliche Import/Exportmensch mit den 39 MP-Kugeln glücklich unter der Erde, während der restliche Balduin Schlipps noch immer im Kühlfach lag.
Und im Untersuchungsgefängnis seine verzweifelte Tochter saß.
"Na? Hast du gesehen, wie die mit den Nerven runter ist? Warum ist die so mit den Nerven runter, wenn sie nichts zu verbergen hat? Na Werner! Kannst du mir das erklären?"
"Himmel! Die Frau ist unschuldig! Wer unschuldig unter Mordverdacht verhaftet wird, der..."
"Schmarren! UNSCHULDIG wird bei uns niemand verhaftet! Wer ist schon UNSCHULDIG?! Das kannst du jemand andrem erzählen! Hast du nicht gemerkt, wie sie sich dauernd widerspricht, na?!"
"Weißt du etwa noch, was du vor drei Jahren gemacht hast?"
"ICH weiß das sehr wohl, Werner! Und ich stehe auch nicht unter Mordverdacht!"
Das Telefon klingelte.
"Orkut! Was - erhängt? In der Zelle? Schweinerei!"
"Wer? Die Berger? Oh Gott!"
"Diese Schlampe! So sind die Weiber! Meint wohl, damit käme sie durch! Aber du wirst es erleben! ICH werden den Fall Schlipps lösen! Und wenn es junge Hunde regnet: ICH löse den Fall! Ich löse JEDEN Fall!"
Wohin mochte das alles noch führen? Staudinger dachte verzweifelt an die Fortsetzung, die gewiß bald folgen würde.

Die Fortsetzung:

Kommissar Orkut ging aufgeregt im Büro auf und ab.
"Was ist denn mit dir los?" erkundigte sich Inspektor Staudinger verblüfft. Normalerweise hockte Orkut wie ein naßer Sack hinter seinem Schreibtisch.
"Gleich kommt der Hauptbelastungszeuge! Dann nageln wir sie fest!"
"Zeuge?"
"DER Hauptzeuge im Fall Schlipps! Wenn ich sage, daß ich JEDEN Fall kläre, dann meine ich das auch so! AUCH den Fall Schlipps!"
"Oh Gott!" stöhnte Staudinger.
"Was soll das? Was heißt hier 'Oh Gott'?"
"Das WAR SELBSTMORD, Hans-Adolf!" stöhnte Staudinger. Orkut schüttelte gleichmütig den Kopf.
"Wann wirst du das endlich begreifen, Werner? Die Welt des Verbrechens will uns BETRÜGEN, und deshalb sehen manche Morde wie Selbstmorde aus! Aber ICH lasse mich NICHT betrügen! Ich gehe den Dingen auf den Grund. Das unterscheidet uns, Werner!"
Werner Staudinger raufte sich die Haare. Er war dabeigewesen, wie sie damals, vor drei Jahren, den Rentner Baldiun Schlipps vom Fensterkreuz seiner Wohnung geschnitten hatten. Erhängt. Ohne jeden Zweifel Selbstmord. Nur Orkut mochte dies nicht glauben. Vor zwei Monaten hatte Orkut den armen Alten exhumieren lassen, und seitdem lag der im Kühlhaus der Gerichtsmedizin. Wirklich schlimm war, daß Orkut völlig grundlos die Tochter des Toten verhaften hatte lassen - die Frau hatte sich in der Zelle erhängt.
Und - was hatte Orkut darauf gesagt?
"Erhängt! ERHÄNGT! Fällt dir da nichts auf?"
"?"
"In beiden Fällen dasselbe! Da ist ein Serienmörder am Werk! Sicher war die Berger nicht unschuldig - aber sie hatte Hintermänner! Und DIE werden wir finden, so wahr ich Hans-Adolf Orkut heiße!"
Der "Hauptbelastungszeuge" war der stets betrunkene Hausmeister des Wohnblocks, in dem der Tote seine letzten Jahre verbracht hatte. Er hockte verstockt auf dem Stuhl vor Orkuts Schreibtisch.
"'n Bier?" sagte Orkut. Die Augen des Hausmeisters glänzten. Zisch! standen zwei Bierflaschen auf dem Schreibtisch.
"So! Und jetzt erzählen Sie mal, was damals WIRKLICH los war!" forderte ihn Orkut auf. "Und ich raten Ihnen, sich genau zu erinnern! NOCH sind Sie ZEUGE - aber wir lassen uns nichts vormachen! Und in der Zelle gibt's kein Bier! Da gibt's Muckefuck und Leitungswasser!"
Der Hausmeister starrte Orkut entgeistert an.
"Wasser?"
"Das hält nicht jeder durch! Einer wie Sie hängt sich nach spätestens zwei Tagen auf! Da verwett' ich meinen Flachmann drauf!"
"Oh Gott!"
"Der wird Ihnen da kaum helfen! Raus mit der Sprache! Was war am 13. April 1989?"
"Naja - da war die Sache mit dem Schlipps! Ich komm rauf, will den Wasserhahn reparieren. Die Tür war ja nicht abgeschlossen, da bin ich rein - und da hängt er. Das war's dann auch schon."
"Das war's eben noch nicht!" bläffte Orkut. "Das war MORD!"
"Aber - der hat sich doch aufgehängt, oder nicht?"
"DAS überlassen Sie gefälligst der Polizei! Sie beantworten jetzt meine Fragen! Vermutungen können Sie in der Kneipe anstellen! Hier reden Sie nur, wenn Sie gefragt werden!"
Orkut lehnte sich zurück, starrte den Hausmeister herausfordernd an. Der wand sich auf seinem Stuhl, hätte sich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen.
Orkut trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte.
Der Hausmeister kaute auf der Unterlippe.
"Jetzt reicht's mir aber!" brüllte Orkut. "Sowas verstocktes! Entweder Sie reden - oder ich lasse Sie einlochen! Raus mit der Sprache!"
"Aber - aber Sie sagten doch, ich solle nur reden, wenn ich..."
"Papperlappap! Kommen Sie mir bloß nicht blöd! Also! Was war am 13. April 1989?!"
"Da war die Sache mit dem Schlipps! Das habe ich Ihnen doch schon alles erzählt!"
"NICHTS haben Sie mir erzählt! 'Der hing da', haben Sie mir erzählt! Und - was soll das? Soll das eine Aussage sein?"
"Äh, ich weiß auch nicht..."
"DANN STRENGEN SIE SICH GEFÄLLIGST AN!"
"Aber ich weiß doch nichts - ich weiß doch nur, was ich gesehen habe!" jammerte der Hausmeister.
"Das können Sie Ihrem Bewährungshelfer erzählen! Sie stehen doch noch unter Bewährung, nicht? Vor vier Jahren im Suff die Kneipe zerdeppert! Und da wollen Sie MIR dumm kommen! Raus mit der Sprache! Sie werden doch einen Verdacht haben!"
"Naja - ich dachte mir gleich - der Schlipps, wissen Sie, der war schon lange so depressig..."
"DEPRESSIV heißt das! Außerdem sollen Sie nicht DENKEN!"
"Ja, depressiv, und da habe ich mich gar nicht gewundert, wie der da so hing."
"Mensch Meier! Jemand muß ihn doch dort hingehängt haben!" rief Orkut. "Haben Sie denn überhaupt kein Hirn unter der Mütze?!"
"Aber alle sagten, es sei ein Selbstmord, und da dachte ich..."
"Denken ist wohl nicht Ihre Stärke, was? Kommt vom Saufen! Aber lassen wir das! Sie WERDEN mir jetzt sofort sagen, was Sie wissen!"
"Ich weiß doch nichts!" stöhnte der Hausmeister.
"So kommen Sie bei mir nicht durch! JEDER weiß etwas! Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß ausgerechnet der Hausmeister nichts weiß? Halten Sie mich für plemplem oder was? Raus mit der Sprache - was war mit Schlipps?"
"Gar nichts! Ein ruhiger Mieter. Hat nie Besuch bekommen, machte nie Ärger."
"Kein Besuch? Und was war dann mit seiner Tochter?" erwiderte Orkut gefährlich leise.
"Naja - die kam immer, wenn er Geburtstag hatte."
"Acha! Von wegen 'kein Besuch'! Und - wer kam sonst noch?"
"Niemand."
"DAS GIBT ES NICHT! Strengen Sie sich gefälligst an, Mann!"
"Naja - einmal hab ich gesehen, wie er mit so komischen Leuten geredet hat. Die waren von den Zeugen Jehovas oder so."
"Zeugen? Ist ja interessant! Staudinger! Wieso wissen wir nichts von diesen Zeugen?"
Inspektor Staudinger erbleichte.
"Die heißen nur so. Ist eine Sekte", klärte er seinen Chef auf.
"Eine Sekte - wie interessant! Religiöse Fanatiker neigen zu sowas! Die stellen alles mögliche an!"
Orkut machte sich eine Notiz, dann wandte er sich wieder dem Hausmeister zu.
"Und jetzt denken Sie mal scharf nach. Ich möchte eine Personenbeschreibung! Eine sehr genaue Personenbeschreibung!"
"Aber - aber die waren doch - das war doch ein halbes Jahr, bevor sich der Schlipps umgebracht hat!"
"UMGEBRACHT hat er sich eben nicht! Und wenn er schon ein halbes Jahr zuvor mit diesen Leuten Kontakt hatte - umso schöner! Dann ging das also schon länger, so! Los - wie sahen die Leute aus! Staudinger! Hol mal den Zeichner rein!"
Eine Stunde später durfte der völlig zerknirschte Hausmeister gehen. Auf Orkuts Schreibtisch lagen zwei Porträts.
"Jetzt HABEN wir eine Spur!" verkündete Orkut stolz. "Werner! Die schreiben wir sofort zur Fahndung aus!"
"Aber Hans-Adolf! Die läuten doch bei allen an der Tür! Das hat doch nichts mit Schlipps Tod zu tun!" begehrte Staudinger auf.
"Die läuten eben NICHT an jeder Tür! Bei MIR läuten die nicht!" erklärte Orkut. "Und die haben sehr wohl etwas mit Schlipps Tod zu schaffen! Kennt man ja: vereinsamter Mensch, grübelt sich die Birne weich über dies und das. Und dann kommen so Erlöserfreaks an die Tür - paff! Schon ist die Tragödie fertig! Diese Sektierer SUCHEN doch nach solchen Leuten!"
"Aber - wieso sollten die ihn umbringen?"
"DAS werden wir schon noch herausbringen! Alles der Reihe nach: zuerst FINDEN wir diese Leute, dann verhören wir sie - und DANN wissen wir, warum sie es getan haben!"
Eine Woche später saßen die beiden Zeugen Jehovas vor Orkuts Schreibtisch.
"Ich rate Ihnen eines: immer schön bei der Wahrheit bleiben!" klärte sie Orkut zur Begrüßung auf. "Ihre Religion ist mir wurscht! Deshalb kommt heute keiner mehr ins KZ! Es ist auch ganz egal, was ICH davon halte. Aber eines schreiben Sie sich gleich hinter die Ohren: ein FALSCHES Wort, und ich loche Sie ein!"
"Aber wir haben doch nichts getan! Mord ist eine Todsünde! Wir - wir würden doch niemals im Leben..."
"Was Sie WÜRDEN ist mir egal! Mich interessiert, WAS Sie GETAN HABEN! Und WARUM Sie es getan haben!"
"Ich - wir kennen doch diesen Schlipps gar nicht!"
"DAS ist eine Lüge! Ich habe einen Zeugen, der Sie beide mit ihm gesehen hat! Erzählen Sie das ruhig dem Richter - da werden Sie nicht weit kommen damit!"
"Ja - vielleicht - vielleicht im Predigtdienst?"
"Was für'n Dienst?"
"Ja, daß wir ihn einmal besucht haben, das könnte schon sein."
"Na also! Sie haben den Ermordeten nicht nur GEKANNT, Sie haben ihn sogar BESUCHT! Und - was wollten Sie von ihm? Sein Geld? - Los, reden Sie!"
"Geld? Aber - aber, wir wollten ihm doch nur die Heilsbotschaft bringen!"
"Erzählen Sie mir keine Märchen! 'Heilsbotschaft' - pah! Da klingelt's an der Tür, man macht auf, und hinterher fehlen die Silberlöffel! Euch Brüder kenn ich!"
"Wir werden uns über Sie beschweren! Wir lassen uns nicht von Ihnen beleidigen!" protestierte der Mann.
Orkut griff sich an die Stirn, als dächte er über das Gehörte nach.
"Beschweren. Sie wollen sich wirklich über mich beschweren?"
"Ja! Ich kenne unsere Verfassung! Das müssen wir uns nicht gefallen lassen!"
"So? Natürlich meinen Sie das GRUNDGESETZ, eine VERFASSUNG haben wir nämlich gar nicht! Ich weiß auch sehr genau, was da drinsteht! Aber..." Er legte eine Pause ein, knackte mit den Fingerknöcheln, ehe er weitersprach: "Aber SIE wissen nicht, was im Polizeiaufgabengesetz steht. Sie können sich natürlich einen Anwalt nehmen - aber der wird Sie kaum vor dem Galgen bewahren!"
Die beiden wurden bleich.
Staudinger lief rasch hinüber und flüsterte Orkut etwas ins Ohr.
"Das mit dem Galgen ist eher leider nur symbolisch gemeint", fuhr Orkut fort. "Aber lebenslänglich ist auch nicht ohne. Nehmen Sie sich ruhig einen Anwalt. Ich an Ihrer Stelle würde mir das Geld aber besser für den Knast aufheben. Schnapps und Kippen sind dort verflucht teuer!"
"Wir rauchen nicht!" kam es wie aus einem Munde.
"Bitte - wie Sie meinen! Staudinger - laß sie in die Zelle bringen!"
So kam endlich Bewegung in den Fall Balduin Schlipps. Der Untersuchungsrichter unterschrieb nach einigem Hin und Her den Haftbefehl und ordnete eine Hausdurchsuchung an.
Und tatsächlich fand sich eine alte Predigtdienstliste, auf der der Name Balduin Schlipps mehr als einmal vorkam.
"Siehst du, Werner! Jetzt haben wir sie! Die haben gelogen - und wir können es beweisen! Eine Woche vor seinem Tod waren sie bei ihm!"
"Aber das beweist doch noch gar nichts!"
"So? Das beweist, daß sie GELOGEN haben. Und WARUM haben sie gelogen? Weil sie etwas zu VERBERGEN haben! Und WAS haben sie zu verbergen? Na, was wohl??"
Und so landeten die beiden biederen Zeugen im U-Gefängnis. Orkut hatte nun Zeit für seine Ermittlungen.
"Werner! Ich hab's!" sagte er endlich. "Der eine ist Apotheker! Und Apotheker haben doch alles mögliche Giftzeugs im Schrank! Haben wir das schon überprüft?"
"Was denn?"
"Ob der auch noch alle Gifttassen im Schrank hat! Wenn da auch nur das kleinste Tablettchen fehlt, ohne daß er uns darüber Rechenschaft abgeben kann - dann ist er dran!"
Ein guter Einfall. Denn tatsächlich gab es eine Dosis Oxmoxmox, die in den Büchern geführt wurde, aber schlichtweg nicht aufzufinden war. "Aber das kommt doch überall mal vor! Das hat doch nichts zu bedeuten!" protestierte der Angestellte des Verdächtigen, nachdem er Orkut die Bücher gezeigt hatte.
"DAS hat etwas zu bedeuten! - Wo waren Sie eigentlich am 13. April 1989?"
"Was? Das - das weiß ich nicht mehr!"
"Dachte ich mir! Sie hören noch von uns!"

Allmählich war sich auch Staudinger nicht mehr so sicher, daß Balduin Schlipps Tod ein Selbstmord war. Immerhin gab es mittlerweile Indizien.
"Und es werden mehr - es werden stündlich mehr!" verkündete Orkut. "Der Kerl in der Apotheke hat kein Alibi für den 13. April. Und das Gift stammt zweifellos aus der Apotheke!"
"Aber - in der Leiche ließ es sich nicht nachweisen?"
Orkut wies triumphierend auf den neuesten Bericht aus der Gerichtsmedizin.
"Vorige Woche hieß es noch, Oxmoxmox könne nicht ausgeschlossen werden. Jetzt heißt es: Spuren knapp an der Grenze der Nachweisgrenze! Die haben nur nicht gründlich genug gesucht, das war alles!"
Staudinger konnte sich noch gut erinnern, wie Orkut mit dem Gerichtsmediziner gesprochen hatte. Fast täglich hatte er den Pathologen angerufen und zur Minna gemacht. Bis dann dieser neue Bericht vorlag.
"Wer SUCHT, der FINDET! Alles nur eine Frage der Beharrlichkeit!"
Womit Orkut nicht ganz unrecht hatte.
Dann kam der große Tag: die beiden Zeugen Jehovas wurden verurteilt. Orkut wies stolz auf die Akte, die nun mit gutem Recht ins Archiv wandern durfte.
"So ist das, Werner! Man kann JEDEN Fall lösen, wenn man nur WILL!"
Staudinger wunderte sich, wie sie überhaupt jemals auf die Idee hatten kommen können, Schlipps Tod sei ein Selbstmord gewesen. Aber eine Sache ging ihm nicht aus dem Kopf: die Berger.
"DAS ist allerdings eine Sache, mit der wir uns zu beschäftigen haben!" sagte Orkut. "Selbstmord in der U-Haft? Nein - das gefällt mir nicht. So einfach kann das nicht sein. Da WAR WAS! Jemand hat sie unter Druck gesetzt!"
"Ja - wir", erwiderte Staudinger kleinlaut.
Orkut schüttelte den Kopf. "WIR setzen niemanden unter Druck! Vergiß das ganz schnell wieder! Selbstzweifel sind aller Laster Anfang! - Da muß es jemanden geben, der sie aus dem Weg haben wollte. Weil sie etwas wußte. Der Jemand wollte verhindert, daß sie alles ausplaudert. Bloß - was?"
"An Schlipps Tod war sie ja wohl unschuldig. Das waren doch die Zeugen."
"Nein - ich denke da an ein Komplott! Diese Kerle geistern durch jede Stadt, läuten an jede Tür. Wissen wir, was da immer so abläuft?"
"Nein."
"Ich möchte wetten, daß die auch bei ihr waren! Vielleicht war es sogar dasselbe Motiv, wer weiß?"
"Hmm..."
"Und da ist noch was: die Berger war eine ganz fleißige Kirchgängerin. War früher mal in der Pfarrjugend!"
"Und - was soll das sagen?"
"Eine ganze Menge! Da haben wir zwei Kerle von den Zeugen Jehovas. Die bringen den Alten um. Dann haben wir seine Tochter, die zwar nicht mit den Zeugen, aber mit den Katholiken sympathisiert. Der Tod des Alten war als Selbstmord getarnt, und - zack! - genau dasselbe passiert bei der Tochter! Die Jehovas-Connection haben wir aufgedeckt - gut! Und jetzt werden wir uns eben ein wenig mit der Katholischen Kirche beschäftigen!"
"Aber das geht nicht so einfach! Willst du etwa den Papst verhören oder was?"
"Wäre gar keine schlechte Idee! Sag mal - diese Mafia - da war doch mal was?"
"Hmmm..."
"Und mit der Stasi auch!"
"Hmm. Irgendwie hast du vielleicht recht", mußte Staudinger zustimmen.
"Vieleicht? Ich HABE recht! Ich sehe da nur noch ein Problem: wie kriegen wir eine kriminelle Vereinigung am Arsch, in der soviele Leute Mitglieder sind?"
"Gar nicht."
Flutsch - stand ein neues Bier auf dem Tisch. Orkut brütete dumpf vor sich hin.
"Hans-Adolf! Denen können wir nicht am Zeug flicken!"
Brüt-brüt.
"Die sind zu groß für uns!"
Orkut achtete nicht auf ihn, blätterte stattdessen im Strafgesetzbuch.
"Und vielleicht - vielleicht haben sie auch gar nichts mit der Sache zu tun!"
"Die haben mit allem was zu tun!"
Dann legte Orkut das Buch zur Seite.
"Ich denke da an die Sache mit der Inquosion, Infosion oder wie das wieder heißt. Wo sie die Weiber verbrannt haben."
"Inquisition?"
"So ähnlich, ja. Da haben wir sie am Arsch!"
"Aber - das ist doch längst verjährt!"
"NEIN, ist es NICHT! 'Verbrechen wider die Menschenrechte verjähren nicht'! Und genau da haben wir sie! Jetzt brauchen wir nur noch einen Staatsanwalt, der den Papierkram für uns erledigt! Und den finde ich auch noch!"
Das dauert. Untersuchungsrichter und Staatsanwälte hielten Orkut zuerst für verrückt. Aber er kam wieder. Zuerst versuchten sie es mit dem, was sie für vernünftige Argumente hielten. Dann schützen sie vor, mit ihm gleicher Meinung zu sein, aber leider leider könne man eben nicht, so wie man wolle. Aber nichts half - immer wieder kam Orkut zur Tür herein. Vier Wochen später hatte er seinen "Papierkram".
Vor jedem Bischofs- und Kardinalspalast fuhren Hunderschaften der Polizei vor, verhafteten, wer auch immer eine Kutte und ein Kreuz um den Hals trug.
Das Telefon in Orkuts Büro läutete sich die Klingel wund, aber weder der Kommissar noch Staudinger hatten Lust, die Gespräche entgegenzunehmen. Es hagelte Proteste.
Staudinger war gar nicht wohl in seiner Haut.
"Mein Gott! Die feuern uns!" stöhnte er. "Wir haben eine ganz schlechte Presse!"
"Pah! Die Brüder verreissen uns doch immer!"
"Aber INTERNATIONAL! Alle sind gegen uns!"
"Stimmt nicht! Der Ayatollah hat uns gratuliert! Hätt' nie geglaubt, daß der Mann so vernünftig ist!"
Staudinger wäre am liebsten ganz weit weggefahren.
"Und Morddrohungen! Heute morgen ein ganzer Waschkorb voll!"
"Ein Polizist kennt keine Angst!"
"Vorhin ist gerade gemeldet worden, daß man einen der Kollegen gelyncht hat!"
"Da hilft nur, daß wir alle zusammenstehen! Wie ein Mann! - Gelyncht, sagst du?"
"Ja!"
"Ich frage mich nur, wieso der Bundestag nicht den Notstand ausruft! Das liegt doch im nationalen Interesse!"
"NOTSTAND?"
"Oder haben wir etwa keinen Notstand? Und wenn die Regierung nicht handelt..."
Orkut blickte versonnen in sein Bierglas.
"W-was willst du damit sagen?"
"Man muß nur mit den Leuten reden! Du wirst schon sehen!"
Am nächsten Tag wurden Orkut und Staudinger verhaftet, was freilich nicht mehr die Unruhen aufhalten konnte, die vor allem in Bayern ausgebrochen waren.
Am Nachmittag des selben Tages besetzten Bundesgrenzschutztruppen das Bonner Regierungsviertel. Orkut und Staudinger kamen wieder frei. Und wen die Putschisten wohl zum Notführer machten?
Hans-Adolf Orkut.
Seine Antrittsrede wurde auf allen Fernsehkanäle übertragen und fand auch im Ausland gebührende Beachtung. Vor allem wegen folgender Passage:
"...seit heute Morgen wird endlich dem Unrecht das Recht entgegengesetzt! Ich werde mich auch weiterhin als Verbrechensbekämpfer verstehen. Und deshalb haben wir die Mobilmachung aller Streitkräfte angeordnet. Vergessen Sie nicht, daß der Anführer jener mittlerweile verbotenen kriminellen Vereinigung ein Pole ist, der sich feige nach Italien abgesetzt hat. Das soll uns aber nicht aufhalten in unserem Bemühen, dem Unrecht Einhalt zu gebieten! Diese Worte richte ich besonders an unsere polnischen und italienischen Freunde: wenn sich zu dieser Stunde deutsche Polizei- und Armeeverbände in Ihrer Heimat aufhalten, dann ist das nicht etwa ein feindseliger Akt! Wir SIND für Völkerverständigung, wir SIND für Frieden, wo Friede machbar ist. Aber ich bin Polizist. Ich lasse mich nicht provozieren! Ich werde mich auch dadurch nicht einschüchtern lassen, daß diese Mafiosi Verbindungen nach Amerika bis in die Regierungsebene haben! Ich versichere den Kollegen in den USA, daß wir gerne zur Amtshilfe bereit sind, wo immer es sich als nötig erweisen sollte!"
Staudinger glaubte zu träumen. Aber dort stand der Fernseher, und dort war Orkut. Staudinger glaubte dessen Bierfahne zu riechen, so real war das alte Ekel. Orkut als Politiker!
Wo sollte das hinführen?
Zunächst einmal ging alles wie geplant (nur, daß Orkut natürlich nichts geplant hatte): Warschau und Rom befanden sich fest in der Hand deutscher Polizeikräfte. Der Papst wurde nach Deutschland überführt. BGS-Truppen durchkämmten ganz Süditalien und richteten Lager für gefangengenommene Mafiosi ein. Nach der Verhaftung des Papstes wurde in Polen die alte Regierung wieder eingesetzt.
Dann kamen die bösen Briefe aus Washington. Die kamen zwar auch aus Frankreich, England und aus 92 weiteren Staaten, aber die aus Washington waren besonders böse. In der Junta begann man bereits zu überlegen, ob man nicht vielleicht besser zurücktreten solle - in Orkut hätte man ja immerhin jemanden, der nachher "die Verantwortung tragen" könne.
Orkut bemerkte dies gar nicht. Er ärgerte sich über die bösen Briefe. Außerdem gab es da immer noch diese Sache im Osten. Natürlich hatten sich die Deutschen aus Polen zurückgezogen - allerdings nicht nach Westen, wie es sich gehört hätte.
"Ach was! Zumindest Weißrußland und die Ukraine! Das wird doch wohl noch zu schaffen sein!" hatte Orkut verlangt.
"Äh - vielleicht weniger gut", hatten die Generäle gesagt.
"Dann STRENGEN SIE SICH EBEN AN! Die POLIZEI würde es schaffen! ICH würde es schaffen! Wieso schaffen es dann SIE nicht? Wozu haben Sie all die Panzer und das ganze Zeug?!"
Die Generäle hatten hochrote Köpfe bekommen, hatten von Hitler gefaselt, von Stalingrad, sogar mit der Meinung der Weltöffentlichkeit waren sie ihm gekommen.
"Eben DESWEGEN!" hatte Orkut beharrlich erwidert. "Es GEHT doch um die Weltöffentlichkeit! Die Öffentlichkeit LIEBT SIEGER!"
Aber man hätte doch bereits gesiegt etc. etc.
"Noch lange nicht! Noch sitzt die Mafia bei den Amis an der Regierung! Und die haben Atom-U-Boote und Raketen und dies und das!"
Zu guter Letzt war die Armee nach Rußland weitergezogen. Man kann nicht eben sagen, daß sie begeistert empfangen worden wäre. Und wenn's sonst nichts gewesen wäre, dann hätte schon Orkuts zweiter Vorname ausgereicht, um Argwohn zu wecken.
Aber diesmal wurden keine Dörfer abgebrannt. Es wurde niemand erschossen, die Truppe wehrte sich nur, wenn sie angegriffen wurde.
"Wir fordern nur unser Recht auf freie Passage!" erklärte man. Und wer konnte dagegen schon etwas haben?
Zumal die russische Armee wirklich nicht mehr viel hermachte. Drei Tage später hatte man die russischen Atomstreitkräfte eingesackt. Gerade rechtzeitig, als die Amerikaner zu einem großangelegten Luftlandemanöver ansetzten.
Wieder wollten die Junta-Mitglieder aufgeben. Sie verlangten von Orkut, er solle sich den Gegnern ergeben.
Orkut hörte gar nicht zu, weil er gerade mit Langley telefonierte. Das war nicht einfach - er konnte nicht eben gut Englisch. Er brauchte über zwei Stunden, um den "Kollegen" vom CIA einige Dinge klar zu machen. Erst dann achtete er auf seine Kumpane.
"Was? Aufgeben? Wer soll aufgeben?"
"Na Sie! Wir haben uns geirrt! SIE haben uns zu all dem verleitet! Jetzt sehen Sie, wie weit es gekommen ist! Wie dumm wir dastehen - wie die Nazis! Man wird uns mit faulen Eiern bewerfen, wenn wir in Urlaub fahren wollen!"
"Wie kommen Sie da drauf? Wollen Sie etwa ins Ausland fahren?"
"Wo fährt man denn sonst hin im Urlaub?"
"Dann müssen Sie erst mal ein Ausland finden! Die Kollegen vom CIA nehmen gerade diesen Verbrecher im Weißen Haus fest! Und: wir haben eine Allianz geschlossen. Endlich gibt es eine Weltsicherheitsbehörde!"
"Kein Ausland?"
"Sagte ich doch! WIR sind jetzt Europa, die ehemalige GUS, und die ehemaligen USA!"
So begann es. Und die Fortsetzung? Um die braucht man sich keine Sorgen zu machen. Sie wird eingestampft wie alle Bücher, seitdem die Weltsicherheitsbehörde alle Bürger als Hilfspolizisten rekrutiert hat. Sicherheit ist eine große Aufgabe. Wer sollte da noch Zeit zum Lesen finden?
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